Selbst gegen mich oder too many choices
von Conny Becker
„Aus dem Gedanken, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann, wie ich glaube, nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: Wir müssen uns wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen.“ 1
Identitätsspiele sind essentiell für die Persönlichkeitsentwicklung, sei es im Kindesalter oder als Teenager. Pathologisch scheinen sie jedoch, wenn sie Mittdreißiger betreiben und zwar noch vor der eigentlichen Midlife-Crisis. Die permanente Identitätssuche manifestiert sich inzwischen als Syndrom einer orientierungs- und haltlosen Bevölkerungsgruppe von in den 1970er Jahren geborenen, materiell sorgenfrei aufgewachsenen Jungakademikern, die zunächst als „Generation Golf“, später als „Generation Praktikum“ die Zahl der Depressionsbehandlungen, dann der Angst- und Panikstörungen und nicht zuletzt die der Yoga- und Pilateszentren in die Höhe treiben. 2
Alex Tennigkeit ist 1976 geboren und darf dennoch Identitätsspiele durchexerzieren, so viel sie will. Schließlich ist sie Künstlerin, prädestiniert dazu, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten – und sie reizt diese Aufgabe mit ihrer Serie Selbst als Allegorie gänzlich aus, auch wenn oder weil in den Bildern fast ausschließlich ihr eigenes Antlitz zu sehen ist. Gerade dadurch versinnbildlicht sie den übersteigerten, narzisstischen Individualismus, der zu einem Paradigma ihrer Altersgenossen geworden ist. „Ich, ich, ich“, lautet der Schlachtruf einer hedonistisch-kapitalistischen Lebenseinstellung, definiert ist dieses Ego jedoch weniger durch das Individuum selbst als vielmehr durch die immer differenzierteren Mode- und Lifestyletrends und die sich ständig wechselnden Vorbilder. „Je individueller, desto mehr gehört man dazu“, beschreibt Markus Brüderlin das Paradoxon des „kollektiven Egotrip[s]“. 3 Das eigene Gesicht wird dadurch gewissermaßen zur temporären Maske, zur manipulierbaren Oberfläche, die dem jeweiligen Kontext, der jeweiligen Selbstverwirklichung angepasst werden kann. Um den medialen Bildern „quasi individuelle Kommentare entgegenzustellen“, nimmt auch die Künstlerin immer neue Rollen ein, die sich ihr in der globalisierten Welt mit Internetanschluss en masse bieten: Mal führt sie verführerisch ein knallrotes Bonbon zum Mund und ärgert damit ihren alten Kindheitshelden Slimer von Ghostbusters (Eye Candy), mal verkleidet sie sich folkloristisch mit dem Tuch der Großmutter als Quasi-Muttergottes (Deeper Than Art, eines der ersten Bilder der Serie), immer nah am Rande von Pathos und Kitsch oder darüber hinaus, aber mit viel Sinn für Ironie. Dennoch geht es der Künstlerin stets auch um ein echtes „Nachfühlen“. Über die Verinnerlichung von medial vermittelten Ereignissen, die der eigenen Realität fremd sind, nimmt sie einen Perspektivwechsel vor, den auch der Betrachter nachvollziehen soll.
So spielerisch, wie viele der Arbeiten aufgrund der Maskerade wirken, sind nur einige von ihnen entstanden. Gelegentlich collagiert Tennigkeit spontan ein eigens fotografiertes Selbstportrait mit einem Bild aus ihrer analogen oder digitalen Bildersammlung. Meist beginnt eine Arbeit jedoch mit einem längeren Bildfindungsprozess, verbunden mit der Recherche zum jeweiligen Thema, einem Fotoshooting und der digitalen Montage eigener und fremder Bildvorlagen. Der Wechsel von dieser überaus präzisen „Skizze“ in das Medium der Malerei vollzieht sich daraufhin keinesfalls 1:1 im Sinne eines Fotorealismus. Tennigkeit lässt die Malerei als solche klar erkennbar, sei es durch die durchscheinende rote Grundierung, auf deren aggressive Wirkung sie im Schaffensprozess reagiert, oder den malerischen Farbauftrag, wie in Der Hauch. Zudem übertreibt sie Falten und Augenränder, was der Werkgruppe eine wehmütige Aura verleiht. Die euphorische Feier des jungen weiblichen Körpers, mit dem sie in früheren Serien den Betrachter verführte, ist einer edlen Melancholie gewichen. Die Künstlerin verhandelt die mediale Repräsentation von Frauen nun aus einer neuen Perspektive, wirft etwa die Frage nach der Darstellungswürdigkeit einer Hautkrankheit auf (Impetigo) oder thematisiert in Zwischen Wahn und Sinn ist – mittendrin die Konstruiertheit der ewig lächelnden Gesellschaft des Spektakels.
Jedes Selbstportrait – wie auch das gesamte Oeuvre Tennigkeits – ist tief vom Thema des Memento mori durchdrungen. Die Grundmotivation für all ihr Schaffen bildet ein Sich-vor-dem-Tode-Retten, was ihr durch die vielgestaltigen Inkarnationen zu gelingen scheint. Mit konkreten Allegorien auf den Tod beziehungsweise das Sein zum Tode – nach Heidegger die stete Einbeziehung des Todes in das Dasein als unabwendbare Möglichkeit – beginnt und schließt das Künstlerbuch: Als Auftakt empfängt den Leser der durchdringende Blick einer (Spielzeug-)bewaffneten Amazone à la Quentin Tarantino, der Titel Die Schule von Beslan verweist jedoch auf die realen Bildvorlagen, aus denen Tennigkeit Opfer- und Täterrolle synthetisiert. So oszilliert die Arbeit zwischen barocker Dramatik und bitterer Ironie. Gleich mehrere konträre Elemente lässt die Künstlerin in der letzten Arbeit Akrobatik im Unterbewussten aufeinander stoßen. Die von Resignation geprägte Mimik wie auch das mit Totenköpfen bedruckte Kopftuch scheinen dem affirmativen Schriftzug „Ich bin“ zu widersprechen. Tatsächlich kann die Symbolik des Tuchs auch als Antizipation des drohenden Todes gesehen werden, entstammen doch die in Fraktur verfassten Wörter eigentlich dem Satz „Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen“, mit dem die Nationalsozialisten Exkludierte an den Pranger stellten. Belastete Historie trifft hier auf einen aktuellen morbiden Modekult, ein Symptom einer Gesellschaft, in welcher der Tod an den Rand getrieben wurde und nur noch als abstrakte Zier dient.
Wie sind nun diese Bilder letztlich zu verstehen, die Tennigkeit im Titel der noch (lange?) nicht abgeschlossenen Serie ausdrücklich Allegorien nennt? Schließlich spielen bei allegorischen Figuren Kriterien wie die Ähnlichkeit zum Portraitierten keine essentielle Rolle und doch ist die Künstlerin in ihren Bildern meist gut zu identifizieren. Tennigkeit sieht ihren Körper respektive ihr Gesicht als „Material“ für zeitlose Sinnbilder, dennoch spricht auch sie von „Selbstportraits“. Die Lösung liegt wohl irgendwo dazwischen. Dem klassischen Selbstportrait am nächsten kommt sicherlich die Arbeit Libra, auch wenn sie formal die Grenzen der Gattung sprengt, da die Künstlerin sich nicht frontal im Zentrum, sondern gedoppelt und an den Rändern beschnitten malt, so dass das Bild wie ein Ausschnitt anmutet. In dieser Allegorie ihres Tierkreiszeichens Waage lenkt kein Accessoire – die für die Künstlerin so charakteristische Haarspange kann kaum als Fremdelement gelten – von dem inneren Kampf zwischen der starken und der schwachen Seite ab, den auch Tennigkeit empfindet. Doch gerade dieser innere Plural könnte nach Novalis auch als Motivation kreativen Schaffens dienen: „Wenn der Mensch erst ein wahrhaft innerliches Du hat, so entsteht ein höchst geistiger und sinnlicher Umgang, und die heftigste Leidenschaft ist möglich.“ 4
Auch wenn Tennigkeits Konterfei häufig als Stellvertreter fungiert und sie somit ein Portrait ihrer Generation zeichnet, bilden die Arbeiten in ihrer Gesamtheit doch ein Selbstportrait der Künstlerin. Als Variation von Foucault begründet sich Alex Tennigkeit aber offenbar nicht in einem einzigen Kunstwerk, sondern in mindestens einer Serie.
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1 Michel Foucault, „Sex als Moral“, in: Von der Freundschaft als Lebensweise: Michel Foucault im Gespräch. Berlin 1984, S. 81.
2 Generationsbezeichnungen nach Florian Illies’ gleichnamigen Roman respektive nach Matthias Stolz’ gleichnamigen Artikel in DIE ZEIT vom 31. März 2005, Nr.14, www.zeit.de/2005/14/Titel_2fPraktikant_14.
3 Markus Brüderlin, „Face to Face to Cyber-Face. Das Gesicht in der Kunst der Gegenwart“, in: Face to Face to Cyberspace, Ausst. Kat, hrsg.v. Fondation Beyeler, Ostfilden 1999, S. 97.
4 Novalis Schriften, hrsg.v. Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel, Berlin 1826, S. 104.