Veröffentlicht im KÜNSTLER – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, 122 / Monografie Alex Tennigkeit, Februar 2019
NICHTS IST WIE ES SCHEINT. ODER DOCH? ILONKA CZERNY
Die Malerei hat gegenüber anderen Kunstgattungen den großen Vorteil, dass die Kunstschaffenden mit künstlerischen Mitteln narrativ-visualisierend darstellen können, was nicht der natürlichen Realität entnommen und den irdischen Gesetzen unterworfen sein muss. Die Inhalte der Bildhauerei und der installativen Kunst sind dagegen verdichtet. Übernatürliches, Metaphysisches, Fantastisches, Mystisches und Enigmatisches kann auf dem Aktionsfeld der Leinwand greifen und zum Akteur mutieren. Phantasmagorien der innersten, emotionalsten und expressivsten Ausdruckskraft der Malenden können entspringen; Parallelwelten dargestellt werden. In der Konsequenz erschaffen die Künstler Geister, die sie riefen.1 Mit der kontextuellen Erlebniswelt des Betrachters ermöglicht dieser malerische Impuls erweiterte Zugänge, neue Horizonte.
Die 1976 in Heilbronn geborene Künstlerin Alex Tennigkeit lebt derzeit in Berlin. 2015 gründete sie mit weiteren Künstlerinnen die Gruppierung MalerinnenNetzWerk Berlin-Leipzig, um der immer noch „männerlastigen“ Kunstgeschichte weibliche Impulse zu verleihen.2 Ein unerreichbarer Wunsch stand zu Beginn der tennigkeitschen Kunstkarriere: Sie strebte es an, in ihrem Leben einmal alles gezeichnet zu haben. Als Kind kopierte sie deswegen interessante lexikale Abbildungen. Spätestens das Digitalzeitalter, mit der unendlichen Bilderflut, hat ihre anfängliche Zielsetzung obsolet werden lassen.
Einst wurde die mündliche Erzähltradition in mythologisch-exegetische Schrift-Texte überführt. Diese Textvorlagen nährten die künstlerische Fantasie und dienten als Folie zur Bildübersetzung. Bei Alex Tennigkeit boten fiktive Kinobilder den malerischen Grundstock für den ersten Werkkomplex. Bereits in ihnen ist die collageartig gemalte Synthese von Bildelementen angelegt. Fantastische Popsujets werden mit christlich-mythologischer Ikonographie kombiniert.
Fictitious Movie Paintings (2003 – 2006)
Ein treffendes Beispiel dieser frühen Serie von Gemälden ist das Werk Phoenix – Coldhearted, Furious and Insane. Der als Bild-Element dynamisch-futuristisch gestaltete Filmtitel existiert nicht in der Geschichte der Cineastik.3 Die Titeleinfügung wirkt wie ein Zitat aus dem Kubismus, um die Objektivität zu erhöhen. Im Zentrum der Bildfläche steht die Künstlerin im rot-schwarzen Bikini – einem Outfit, welches sie zur charakteristischen Markenfigur stilisiert. Als heroische Heldin, einer Fantasy-Serie entsprungen, steht sie breitbeinig, pathetisch-siegesgewiss auf einem steil aufragenden Felsen. Im Hintergrund tobt ein wütendes Feuermeer. Graue Schwingen entwachsen der Felsspitze, die auf die Titelgebung Phoenix anspielen, den griechisch-mythologischen Vogel der altägyptischen Sage, der im Feuer wiedergeboren wird.
Mit zwei Schwertern kämpft die Heroin gegen Himmels- und Erdenmacht, ihre Weiblichkeit ist Bindeglied dieser Machtzentren. Ein roter Vorhang lässt das Bildgeschehen wie auf einer Bühne erscheinen. Im Barockzeitalter wurde die Welt als Theater aufgefasst, das Leben geriet zum Bühnengeschehen.4 In barocken Aufführungen kämpfte der Erzengel Michael mit Schwert und Brustpanzer gegen das Böse, um das Himmelsgut zu schützen.
Das fiktive Plakat folgt stilistisch der Kinowerbung der 50er/60er-Jahre. Der inhaltliche Aktionsschwerpunkt liegt im Zentrum, Nebenschauplätze an den Seiten sind surreal zu einem Bildkonglomerat vereint. Simultanismus, wie in der Kunst des Mittelalters, fasst die unterschiedlichen Bildelemente zusammen. Größenverschiebungen tragen zur Bedeutungsperspektive bei. Diese künstlerischen Prinzipien vereinen synthetisch Gegensätze. Bereits in diesem frühen Werk ist die Gefühls-, Gedanken- und Bildwelt der Alex Tennigkeit angelegt – formal und inhaltlich.
Carpe Virtus! (2007 – 2010)
Die zweite Bildserie ist mit Carpe Virtus, deutsch „Nutze die Mannhaftigkeit“ oder „Nutze die Tapferkeit“, betitelt.
Ganz der Barocktradition verpflichtet, malt Tennigkeit in Tod und Firlefanz ein Memento mori aus einer Zusammenstellung von Todessymbolik: Epitaphien im klassizistischen Stil, steinerne Totenengel, eine zerborstene Säule, eine sterbende Frau. Fast alles deutet auf Trauer, Tristesse und Nekrophilie hin, bis auf eine lächelnde Maske. Die melancholische Hintergrundfolie wird jedoch durch ein tanzendes Skelett, mit cadmium-goldener Abendkleid-Hülle im Arm, makaber gebrochen. Humoristisch zudem wirkt die Liebkosung der Achselhöhlen. Diese Art des Danse makabre hat seine historischen Vorläufer im Theater des 17. Jahrhunderts. Dort werden – aus heutiger Sicht – sonderbare Szenerien aufgeführt: Tote begehren sich auf Friedhöfen und Orten, die den Toten vorbehalten waren.5 Der Tod, damals allgegenwärtig, hatte einst eine andere Qualität als der tabuisierte Tod heute. Seit dem Mittelalter treten Totentänze in der Malereigeschichte auf.6 Diese Darstellungen veranschaulichten die Gewalt des Todes über das Menschenleben, sollten an den zukünftigen Tod gemahnen, aber auch dessen Schwere nehmen. Der Titel Tod und Firlefanz des tennigkeitschen Gemäldes steht in dieser Tradition und deutet die Bipolarität des Tragikomischen an, dessen harmonische Vereinigung auf der Bildfläche erfolgt.
In Wahrheit. Schönheit. Gleichung wird die morbide Thematik komplexer behandelt. Renaissance-Architekturen im Hintergrund und ein Arkadengang mit korinthischen Kapitellen im Vordergrund bilden das bühnenhafte oder schaufensterartige Szenario. Das Motiv des tanzenden Skelettes erscheint erneut in leicht veränderter Haltung am rechten Bildrand. Eine Rückenfigur in Mönchskutte schaut auf ein wild tobendes Feuer. Diese Konstellation erinnert an die Buß-Predigten des Girolamo Savonarola (1452 – 1498) in Florenz zu Zeiten der Medici. Ein junger Mann in zeitgenössischer legerer Kleidung sitzt auf einer Fußbodenerhöhung und entzieht sich dem Bildgeschehen durch Wegschauen, dies symbolisieren auch die drei japanischen Affen. Das einzige Objekt der Gegenwart ist eine Steckdosenleiste, die nutz- und funktionslos in der linken vorderen Ecke am Elektrokabel hängt. Technikfortschritt hat in Anbetracht des Todes jede Notwendigkeit verloren.
Weltraumbilder (seit 2001)
In der älteren abendländischen Kunstgeschichte wurden Himmelsbilder mit harmonischen Engels-, Heiligen- und Seligendarstellungen bevölkert. Die Himmelsabbilder von einst, sind die kosmisch-stellaren Werke von heute. Alleine frei im Weltraum schwebt eine Frau schwerelos mit ausgebreiteten Armen. Der dunkle Kosmos wirkt nicht bedrohlich. Der Werk-Titel Where the Wild Roses Grow ist einem Songtitel aus dem Jahr 1995 entlehnt. Nick Cave sang dieses Lied im Duett mit Kylie Minogue in Begleitung der Band Bad Seeds. 2008 gelangte der Song erneut in die Charts, als er in der Soap Opera „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ mehrfach eingespielt wurde. Der melodramatische Text handelt von der Vergänglichkeit der Schönheit. Tennigkeit hat den Videoclip zum Song gesehen und die „opheliahafte Physis“ von Kylie Minogue, die die ermordete Geliebte spielt, für ihr Gemälde übernommen. Das existenzielle Thema der Vergänglichkeit ist es, welches Alex Tennigkeit zu Bildinhalten wie diesen anregt. So schreibt sie: „Sicherlich ist es die Unsicherheit des Lebens, die Vergänglichkeit des Körpers, die mich umtreibt.“7
Ein weiteres Ölgemälde aus der Werkgruppe der Weltraumgemälde ist die Allegorie des Aufsaugens & Vergessen von Welt. Ein nackter weiblicher Körper, nur mit hochhackigen Frauen-Schuhen bekleidet, ist mit gelben leeren Haftnotiz-Zetteln („Post-its“) übersät. Einer Immaculata gleich, die das Weltgeschehen dominiert, stehen die Frauenbeine in klassischer kontrapostischer Haltung auf dem Planeten Erde. Ein Kleiber hängt kopfüber am oberen Teil einer verschlungenen Steinsäule mit stilisiertem korinthischen Kapitell, ein anderer an der Basis. Dieser Vogel (8) steht für Selbstvertrauen, Erweckung der eigenen Kräfte, zudem symbolisiert er den Glauben und die höhere Weisheit, die mit der Erde verbunden werden sollen. Der dritte Vogel, die Eule (9) mit verdrehtem Kopf, steht für Beobachtungsgabe, Objektivität und Hellsichtigkeit, höhere Weisheit, Urteilsvermögen, nächtliche Visionen und Prophezeiungen. Sie ist Symbol des Weiblichen, für intuitive Fähigkeiten und Bewusstheit. Dieser Greifvogel wurde von Tennigkeit auf einer fragilen Luftblase platziert; jederzeit kann sie zerplatzen.
Ein Männerkopf sitzt wie ein Fremdobjekt auf dem Frauenkörper. Der Männermund saugt über einen Verbindungsschlauch „Welt“ auf. Der gesellschaftliche Agitations- und Aktionsfluss dringt permanent in den Körper ein. Handwerkzeuge, Waffen (Pfeile) und Messer malträtieren den Menschenkopf zudem. Informationsflut wird ein- und Energiefluss wird abgesogen. Wir hängen alle am Tropf der Erde.
Stilistisch steht die Kopfpartie dem Vertreter des Wiener phantastischen Realismus, Rudolf Hausner (1914 – 1995) nahe, inspiriert wurde sie dagegen von einem spätmittelalterlichen Holzschnitt aus einem medizinischen Buch. Die attackierenden Tools erinnern an Motive von Frida Kahlo (1907 – 1954). Diese Stil- und Motiv-Synchronie passt zu folgender Aussage Tennigkeits: „Wichtig ist mir beispielsweise die synchrone Darstellung von weiblichen und männlichen Sichtweisen.“10 Verbildlicht werden zwei abstrakte Begriffe, der des „Aufsaugens“ und der des „Vergessens von Welt“. Aufsaugen und vergessen ist ein Begriffspaar, das inhaltlich zwar nicht kompatibel ist, aber auch kein Paradoxon darstellt. Allegorien sollen Abstraktes visualisieren. Diese personifizierten Sinnbilder sind in der Kunstgeschichte stets weiblich besetzt, bei Tennigkeit wird die Allegorie zu einem androgynen Zwitterwesen.
Tennigkeit zu ihren allegorischen Darstellungen: „Häufig prallen in meinen Bildern mehrere Assoziationsketten aufeinander. Die unterschiedlichsten, oft disparaten Bildmotive, verflechte ich in eine streng konzipierte Bildarchitektur. Durch die Anhäufung der Motive wird eine scheinbar narrative Situation evoziert, doch auf erzählerischer Ebene wirken meine Werke zunächst dysfunktional, stellen allenfalls eine kurze Sequenz dar. Hinter meinen Bildern stecken oft situative, assoziative Ideen, welche auf einen widersprüchlichen inneren Gefühlszustand hinweisen, aber auch auf die Konfrontation meines Künstler-Ichs mit der Außenwelt. So sind sie für mich ebenfalls Hilfskonstruktionen zur künstlerischen Untersuchung von innerer Zerrissenheit. Ich bringe meine Werke mit verschiedenen Strategien der Distanzierung in die Nähe von stellvertretenden Allegorien, allerdings ohne eine klare Botschaft vermitteln zu wollen. Die Form der Allegorie greife ich auf, um in ihr die Widersprüche vereinen zu können, ohne sie aufzulösen. Durch die Schichtung von Bildoberfläche und subjektivem Inhalt, erschaffe ich Sinnbilder, die sich einer linearen Lesbarkeit zunächst verweigern, als ‚offene Fragestellungen‘ intendiert sind.“11
Additive Bildelemente werden in dem Werk Atopie zusammengeführt. Die Malerin liebt dialektisch angelegte Grundideen, die sich einer Einordnung entziehen. Diese Vorliebe kommt hier zum Ausdruck. Fast einer Jungfrau Maria gleich breitet eine Frau im Zentrum des Kosmos-Gemäldes die Arme auseinander. Leicht- und barfüßig mit einem Rosenkranz als Tattoo, gewandet in einen langen Mantel, der die Marienfarbe Blau hat, tritt sie wie eine beschützende Prophetin auf. Ihr Gesichtsausdruck verheißt Entsetzen ob des Höllenszenarios, das sich visionär vor ihr ausbreitet. Eine monströse Ameise – sie steht für Geduld, Fleiß, Disziplin und Durchhaltevermögen – entwächst einer an Hieronymus Bosch (1450 – 1516) gemahnenden Phantasmagorie der Feuerglut – in Wahrheit ein verknülltes Filmplakat des Rodriguez-Filmes „Machete“ von 2010. Maske und Strohhalm – Motive, deren sich die Künstlerin immer wieder bedient – werden gleich vierfach auf die Projektionsfläche gemalt. Die poppigen Plastikstrohhalme brechen die bühnenartige Sequenz lebendig auf. Inhaltlich kommt die Option‚ „sich an den letzten fragilen Strohhalm zu klammern“, einem Scheitern gleich. Eine undefinierbare liquide Konsistenz aus einem Totenschädel wird aufgesogen. Es ist das Laben an der Hinterlassenschaft der Toten: „Vergangenes in sich aufzunehmen, um es dadurch zu transformieren“12, ist eine weitere Intention Tennigkeits. Alles wirkt surreal auf diesem Werk, einer visionären Traumwelt entsprungen. Der balancierende Mann mit einem Playboy-Bunny-Kostüm wirkt sogar grotesk und lächerlich. Masken dienen der Verkleidung, dem Unkenntlichmachen, dem Verstecken und Verdecken der wahren Person und Befindlichkeit. Sie werden beim Karneval, vor allem auf Maskenbällen, verwendet, um eine andere Identität anzunehmen und um ein lustiges Treiben und Spiel zu ermöglichen. Das Leben ist ein Spiel, das sich manchmal als Drama, als Tragödie oder Komödie, erweist, aber auch als Schauspiel, Lustspiel oder Trauerspiel.
Das Weltraumbild Subsymbolische Lösung ist im ersten Moment ein Werk, in das man sich hineinträumen möchte, ein scheinbares Kaleidoskop der Möglichkeiten im amorphen Weltraum. Formal und inhaltlich erinnert der nur aus Gestirnen bestehende Weltraum auf diesem Gemälde an die gemalten Night-Sky-Bilder von Vija Celmins (*1938). Celmins ist am Sehen, Ordnen und Strukturieren interessiert, um Nuancen wahrnehmen zu können.13 Daran arbeitet auch Tennigkeit. Ihr Ziel ist es jedoch, Klarheit zu vermitteln. Die Griechen in der klassischen Antike empfanden die Himmelskörper und deren Anordnung als Sinnbild des Schönen schlechthin. Zudem scheint eine grenzenlose Freiheit ohne belastende Traumata in den kosmischen Weiten aufzugehen. Eine scheinbare Leichtigkeit des Seins verführt den Betrachter zum Träumen. Aber der Anschein trügt auch hier. Intensives Betrachten lässt wie in einem Sternbild die Umrisse eines Vogels am Firmament erscheinen. Eine Friedenstaube, die als plakative Botschaft über allem schwebt? – Weit gefehlt. Das Tier hat Tennigkeit einer Ölpest-Abbildung entnommen. Der Wasservogel, dessen Flügel ölverschmiert sind, versucht vergeblich, zu fliegen. Er ringt mit dem Tod. Ölpest und ähnliche Umweltkatastrophen sind die Folgen unseres Industriehypes. Der unaufhaltsame digitale Fortschritt führt zur künstlichen Intelligenz, zu subsymbolischen Systemen, deren antrainiertes Verhalten nicht abzuschätzen ist. Der sterbende Vogel leuchtet wie ein in der Kunstgeschichte verwendetes Menetekel auf.
Körperschnitte & Arrangements (seit 2012)
Der Titel und die inhaltliche Struktur der Bild-Objekt-Installation Executio in Effigie sind historischen Vorlagen entnommen. Eine executio in effigie war eine Strafpraxis, in der naturalistisch gemalte Bilder oder lebensechte Puppen statt eines entflohenen Straftäters exekutiert wurden – ein Massenspektakel. Motivisch wurde Tennigkeit dabei möglicherweise auch von Francisco de Goya (1746 – 1828) angeregt. Die Architektur des „Richtpavillons“ „bezieht sich zum einen auf die historischen dreibeinigen Galgen-Konstruktionen und zum anderen auf die Form schmucker Gartenpavillons – als formale Synthese. (…) Das Faktische des architektonischen Gerüstes trifft auf das Subjektive, zweidimensionale Gemälde, welches mich an den Füßen aufgehängt zeigt. Mir gefällt, dass ich die executio in effigie, die im Bildnis vollzogene Strafe, als Künstlerin an mir selbst und mit meinen künstlerischen Möglichkeiten durchführen kann. Ich sehe den Richtpavillon als ideales Objekt zur Visualisierung der Selbstausbeutung, des Sich-an-den-Pranger-Stellens. (…) Die bewusste Zweidimensionalität des ‚gehängten Gemäldes‘ bei meiner Installation verweist dagegen auf die Bildwirklichkeit und zeigt im Zusammenhang einer intendierten Hinrichtung auch ein – glückliches – Scheitern am Realen.“14
In dem Werk Neun Leben kommt Tennigkeits Interesse für niederländische Stillleben des Barockzeitalters zum Tragen. Alte Meister beeinflussen die Künstlerin nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Auf Dornen eines Kerzenständers wurden Eidechsen aufgespießt – Vanitasbild oder Futterdepot eines Neuntöters oder beides? Für die Malerin ist der Prozess der Übertragung von Motiven, wie von Bildern körperlicher Verletzung, in Malerei – und auch der der Betrachtung – ein meditativer und damit ein Tool, um wieder Kraft (für das Leben) zu schöpfen.15 Die Eidechse ist ein Reptil, welches in traditionellen Bildern eigentlich die Auferstehung symbolisiert, da sie sich vielfach häutet.16 Tennigkeit bricht mit diesen Inhalten und verschiebt den Kontext. „Mich interessiert die Verwendung von symbolisch aufgeladenen Motiven“, sagt sie. Diese möchte sie inhaltlich befreien. „Dabei treibt mich die Frage um, ob es möglich ist, ‚symbolisch vorbelastete Motive‘ völlig neu zu interpretieren oder ihnen subjektiven Inhalt hinzuzufügen.“17 Da das Wissen um Symbolik sukzessive verlorengeht, werden „vorbelastete Motive“ zunehmend wieder unbelastet einsetzbar – ganz im Sinne der Malerin.
Zwei Gemälde, eins ist Die Erziehung des Pan des italienischen Renaissance-Künstlers Luca Signorelli (ca. 1450 – 1523), das andere eine Darstellung des Heiligen Sebastian (bei Tennigkeit jedoch ohne Pfeile) des spanischen Barockmalers Jusepe de Ribera (1591 – 1652), dienten als Figuren- Folie für Tennigkeits komplexes Bild The Renaissance Is Over. Der griechische Hirtengott Pan, bei Signorelli thront er in der Mitte, ist ein Mischwesen mit menschlichem Oberkörper, der Unterkörper besteht aus Beinen eines Paarhufers. Er herrscht über den Wald und liebt die Musik. Statt des Gottes Pan setzt sich Tennigkeit selbst – einen Hip-Hop-Sänger imitierend – lasziv ins Zentrum. Die Malerin trägt eine Maske, die an Septima Zenobia, der Herrscherin Palmyras (267/68 – 272), erinnert. Masken sind auch in der Rapperszene (Sido, Cro) beliebt und fügen sich dem panschen Musikthema ein. Zu Füßen der Künstlerin ist eine Satellitenaufnahme der durch den sogenannten Islamischen Staat zerstörten Stadt Palmyra zu sehen. Auch die zerschlagenen Kulturgüter am unteren Bildrand sind eine Kritik an der islamistischen Terrorwelle.
Anleihen und sogar dezidierte Zitate aus der Kunstgeschichte wurden oft verwendet. Peter Paul Rubens (1577 – 1640) übernahm ganze Körperpartien griechischer Skulpturen für seine Werke. Die Künstler, aber auch die Betrachter müssen kunsthistorisch bewandert sein, sonst sind die Adaptionen nicht decodierbar. Tennigkeit sieht ihre Kunst klar in der Tradition der Kunstgeschichte: „wenn es einen Bruch gibt, dann ist es einer zur Kunst der Moderne, der gerade im Festhalten an der Malereitradition begründet ist“, so die Künstlerin.18 Die Appropriation historischer Vorbilder existiert verstärkt seit den 1990er-Jahren. Einen Remix aus dem digitalen Bildertsunami zu erstellen ist einfach. Gegner der „Generation Remix“ führen Urheberrechtsprobleme an, Befürworter sehen im Rekombinieren einen kreativen Akt, der zur künstlerischen Freiheit führt. Tennigkeit ist eine Bild-Archäologin, die ihre Bildwelten nicht fotonaturalistisch unreflektiert übernimmt. Sie kreiert Neues und ihr Malerei-Duktus kommt voll zur Entfaltung.
Selbst als Allegorie (seit 2010)
Eine Allegorie tritt in mittelalterlichen und barocken Werken hauptsächlich als eine Personifikation auf. Herrscher haben sich von Künstlern zur Selbsterhöhung allegorisch darstellen lassen. Ein Selbstporträt als Allegorie bedeutet einen Akt der Selbstvergewisserung. Die Stellvertreterfigur des Alter Ego meint sogar ein Über-sich-Hinausweisen. Alex Tennigkeit malte sich in dem Bild Die Offenlegung der Idee in einem Halbprofil und erinnert damit formal an den italienischen Frührenaissance-Maler Piero della Francesca (1416 – 1492). Gleichzeitig malte Tennigkeit einen Querschnitt durch ihr Gehirn und versucht so, das Ideenzentrum offenzulegen. Um die innere Anatomie zu erforschen, sezierten einige Renaissancekünstler, unter Androhung der Todesstrafe, Leichen. Dem Wissensdrang folgend hat Tennigkeit in einem Selbstversuch ihren Ekel überwunden und rohes Schweineherz und – Hirn „sich einverleibt“. Durchaus überrascht sagte sie resümierend, dass „das Gehirn als Ort der Gedanken, welche eher als ‚hart‘“ wahrgenommen werden, in einem weichen Organ gebildet werden.19 Bewusst überschreitet die Künstlerin die Alltagswelt, um in eine „Ideenwelt – im Sinne einer Parallelwelt oder Wunschwelt – einzutauchen“, um dadurch eine „gewisse Distanz zur Wirklichkeit aufzubauen“. 20
Platon betonte stets die Wichtigkeit der Idee vor der Ausführung, denn das Endprodukt bedeute nur ein Abbild der ursprünglichen Idee. In der zeitgenössischen Konzeptkunst wiederholt sich diese Auffassung. Es ist jedoch die Kombination aus beidem, welches ein abgeschlossenes Ganzes ergibt.
A Hint of Lightness zeigt die Künstlerin mit ihrem toten Vater, dessen frühen Verlust sie als eine „biographische Leerstelle“ und als „Verletzung des Urvertrauens“ wertet. Eine Skeletthand liegt auf ihrer Schulter. Lovis Corinth (1858 – 1925) malte sein Selbstporträt sogar mit einem ganzen Wissenschafts-Skelett. Tennigkeit beschäftigt sich mit Themen, die sie schwer akzeptieren kann. A Hint of Lightness entstand nach dem missglückten Versuch, den eigenen Vater mit sich in einem Raum vorzustellen. Das Bild zeigt einerseits dieses Scheitern und ist gleichzeitig aber auch eine Objektivierung, die eine Weiterentwicklung ermöglicht.“ Die clowneske Bemalung ist eine Anspielung an die Popkultur und vermittelt mit der „Reminiszenz an Karneval oder Halloween einen leichteren Ausdruck“.21 Was bleibt den Lebenden von den Toten? – Letztlich nur Erinnerungsbilder. „Erst das verinnerlichende Nachleben dessen, was als widersprüchlich erlebt wird, ermöglicht mir die anschließende Phase der Nachinszenierung bzw. Neuinszenierung. Durch freies Changieren zwischen unterschiedlichen Bildwelten und durch synchrone, assoziative Recherche-Bewegungen bilden sich – mitunter tragikomische – Themen- Konglomerate heraus“, so die Künstlerin.22 Ihr ist es wichtig, die dargestellte Tristesse wieder auszubalancieren und eine zuversichtliche Aussicht herzustellen. „Dabei bediene ich mich populärer Motive und vor allem der Ironie, welche oftmals forciert wird, durch die Verwendung von stereotypen und aggressiven Stilmitteln, wie der Übertreibung – auch über die Schmerzgrenzen hinaus.“23
Arbeiten auf Papier (fortlaufend)
Parallel zu den Gemälden entstehen als eigenständiges Genre Papierarbeiten. Sie sind nicht als Vorstudien zu den Leinwandbildern zu betrachten, sondern als autonomes Pendant mit ähnlichem Motiv-Kanon. Auffallend sind die aufgesetzten Schriften, die entziffert oftmals den Titel des Blattes wiedergeben. Laszive gezeichnete, weibliche Körper, deren Outfit Referenzen an die Gegenwart darstellen, sind die formalen Unterschiede zu den Ölgemälden. Die Verwünschung der Männer in Strong Women and Dead Men ist eine klischeehafte Kampfansage mit weiblicher Körper-Potenz als Phalanx – reine Ironie. Nach derartigen Bild-Klischees sind in der Folge komplexere Werke entstanden, denen tiefergehende Recherchen und virulente gesellschaftliche Themen zu Grunde liegen. Der Titel Sulfur deutet eine schwefelhaltige Flüssigkeit an, die dem gezeichneten Frauenkörper entweicht. Ironisch gebrochen wird die drastische Darstellung durch die lapidaren bunten Strohhalme. Tennigkeit arbeitet an einer Ikonographie der Gegenwart. „Neben dem starken Bezug zur Kunstgeschichte setze ich heutige Motive ein, bevorzugt solche, die noch nicht so häufig in der Malerei vorkommen wie zum Beispiel den Strohhalm. Es geht mir darum, ein poppig-trashiges Motiv auf seine Symboltauglichkeit hin zu überprüfen. Der Mensch ist ein Säugetier, ich persönlich trinke gerne saugend (auch ohne Strohhalm). Alle möglichen wichtigen und unwichtigen Informationen werden aufgesaugt (meist um sie sofort wieder zu vergessen). Außerdem hat es mich formal als eine Art ‚Schnabel‘ interessiert. Mir geht es aber nicht darum, eine bestimmte Bedeutung festzulegen, sondern darum, einen Bedeutungsraum zu öffnen.“24
Cut-Outs (seit 2003)
Der Mensch – in dem Werk Kapriziöse Nummer erneut die Künstlerin – dargestellt als Lachnummer. Tennigkeit kniet wie ein dressiertes „Tier“ auf einem Zirkuspodest, bereit für die nächste Auftritts-Nummer. Die Gesichtspartien sind durch ein weißes Tuch überdimensioniert maskenhaft verzerrt. In dem ikonographisch besetzten Schweißtuch der Veronika drückt sich das Selbstporträt der Künstlerin ab: ihr Vera Icon? Zahnstocher um die grinsende Mundpartie verstärken das Gebiss und erhöhen die zur Lächerlichkeit preisgegebene Selbstentstellung. Die Künstlerin als Repräsentation des Menschen, der als dressiertes, abgerichtetes Raubtier einem grölenden Publikum – einer „werbenden Reklametafel“25 gleich – zur Schau gestellt wird. Wir alle befinden uns in der Manege des Lebens, eingesperrt, drehen kritiklos, vermeintlich ausgeliefert unsere Runden im Massenrad, warten auf den nächsten Einsatz und hoffen nach folgsamer Absolvierung auf eine Belohnung. Der Holz-Ausschnitt (cut-out) ist eine Erweiterung über eine angedeutete Dreidimensionalität hin zu einer flächigen Skulptur. Es erfolgt durch die Freistellung des Körpers eine Betonung der Körperlichkeit und der Umraum mutiert zum „Bild-Hintergrund“.
Die Malerin Alex Tennigkeit hat viele Gesichter, die sie dem Betrachter vor Augen führt. Beiläufig zu erfassen ist ihr Form- und Motivrepertoire nicht. Ihr inhaltliches Spektrum ist breit, jede Betrachter-Generation kann aus deren Erfahrungskontext schöpfen. Die Künstlerin zeigt sich emphatisch bis wissbegierig – als Seismographin unserer Zeit. Mit ihren ontologischen Fragestellungen möchte sie dem Wesen der Welt auf den Grund gehen. Zu ihren Selbstporträts sagt sie: „Das Zurückgeworfensein auf das eigene Ich, das verzweifelte Streben nach Erlösung aus dieser Verstrickung, reflektiere ich in meiner Kunst durch die exzessive Verwendung meines Selbst. Person, Biografie und Körper sind mir vertraute Grundmaterialien einer subjektiven Analyse meines Seins, welches ich durch rollenspielhafte, transgressive Selbst-Inszenierungen aufbreche. Die Sehnsucht nach der Überwindung des eigenen Seins und das Scheitern daran, manifestieren sich in meinen Werken als ‚vitalistische Starre‘. Der Wunsch nach Transformation des Selbst und die Härte der eigenen Physis bilden die Antagonisten meiner Malerei. Den Kampf dieser Gegensätze greife ich malerisch innerhalb einer materialistischen Darstellung seelischer Befindlichkeiten auf: Dinge werden beseelt und Seelisches materialisiert. In experimentellen Rollenspielen und mithilfe digitaler Bildveränderung versuche ich, körperliche und geistige Erfahrungen bildlich zu objektivieren. Trotz, oder gerade durch die Darstellung subjektiver Totalität, beschäftige ich mich mit der Außenwelt in ihrer Vielfalt. (…) Oder: Indem ich mich als Gesellschafts-Opfer darstelle, als ‚Zigeunerin‘ oder als Nazi-Opfer, schildere ich den Zwiespalt zwischen dieser Rolle und meinem Künstler-Ich. Das Auseinanderfallen von geistiger und bildlicher Ebene, offenbart sich hierbei vor allem in der ‚Berührung‘ des Betrachters durch den gemalten Blick.“26 Tennigkeit möchte, dass ihre Malerei lebendig wirkt: „Positiv produktiv sind meine Werke nicht zuletzt durch mein Streben nach neuen Bilderfindungen, wobei mir die Malerei die Möglichkeit bietet auch das Unmögliche darzustellen. Durch die Schaffung von mehrschichtigen Bildwelten möchte ich eine neue Perspektive auf das scheinbar Vertraute und das bereits Unsichtbare ermöglichen.“27 Alex Tennigkeit nutzt die Freiheit, die in der Kunst steckt, um sich frei zu entfalten und gewährt dem Betrachter eine fast schon freizügige Bildbetrachtung.
ANMERKUNGEN
1 Geflügelte Worte nach Johann Wolfgang von Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht mehr los.“
Der Zauberlehrling Humboldt verhext den Besen, der ihn beim Wasserholen unterstützen soll. Jedoch vergisst er die Gegenzauberworte, die den Besen wieder besänftigen könnten. Das Unglück nimmt seinen Lauf.
2 Alex Tennigkeit in einer E-Mail vom 18.8.2018 an die Verfasserin.
3 Einzig der Kino-Film mit dem Titel „Cold Heart“ aus dem Jahr 2001 von Mark Boot/Zvia Dimbort kann eine betitelnde Anregung gegeben haben.
Ebenso bietet sich der Kinofilm-Titel des Thrillers „Ice Cold in Phoenix“ von
Lindsay Shoneteff an, der aus dem Entstehungsjahr des Gemäldes stammt.
4 Das „Welttheater“ als Gott gegebene Ordnung, die Künste dienten dazu, den
schönen Schein zu wahren und religiöse Ideologien zu verbreiten. Die Kunst des Barock.Architektur,Skulptur,Malerei,hrsg.von RolfToman,Königswinter 2004, 7.
5 Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, München 1982, 480.
6 Die älteste Darstellung in Deutschland zeigt die Handschrift Cpg 314
in Heidelberg.
7 Alex Tennigkeit in einer E-Mail vom 21.8.2018 an die Verfasserin.
8 Der Kleiber hat die Fähigkeit, Lehm zu verkleben, um andere Brutstätten
als eigenes Nest zu nutzen.
9 Eulen sind Lauerjäger und können ihren Kopf bis zu 270 Grad wenden.
10 Alex Tennigkeit in einem Text über ihre Kunst 2012.
11 Ebd.
12 Alex Tennigkeit im Gespräch mit Prof. Dr.Thomas Macho 2012,Transkription
des Gespräches.
13 „I am interested in seeing and ordering things and structuring things,
perception with nuances.“ Vija Celmins im Gespräch mit Susan Larsen 1978, zit.n. Reifert, Eva: Die „Night-Sky“-Gemälde von Vija Celmins. Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis, Bielefeld 2011, 14.
14 Alex Tennigkeit im Gespräch mit Prof. Dr.Thomas Macho 2012,
Transkription des Gespräches.
15 Alex Tennigkeit in einer E-Mail vom 19.8.2018 an die Verfasserin.
16 Die schuppige lederne Haut kann nicht mitwachsen.
17 Alex Tennigkeit in einem Text über ihre Kunst 2012.
18 Alex Tennigkeit in einer E-Mail vom 19.8.2018 an die Verfasserin.
19 Alex Tennigkeit im Gespräch mit Prof. Dr.Thomas Macho 2012,
Transkription des Gespräches.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Alex Tennigkeit in einem Text über ihre Kunst 2012.
23 Ebd.
24 Alex Tennigkeit in einer E-Mail vom 19.8.2018 an die Verfasserin.
25 Ebd.
26 Alex Tennigkeit in einem Text über ihre Kunst 2012.
27 Ebd.